Ein vertrautes und gleichmäßiges Rauschen. Dazu gefühlte fünfzig verschiedene Stimmen, die Dialoge miteinander führen. Der Tag neigt sich dem Ende zu. Alle möchten nach Hause. Noch ein paar Minuten bis zur Ankunft, die übliche Durchsage des Zugführers. Danke für das Reisen mit der Deutschen Bahn, bis zum nächsten Mal und so. Eigentlich stecke ich in meinem eigenen kleinen Gedanken-Kosmos. „...sollen sie den doch wählen, ist mir sowas von egal. Was geht mich das an, was die Türken machen? Außerdem interessiert mich in Deutschland auch nichts Politisches. Alles dumme Schlipsträger...“ Ich scanne die teilweise eng aneinander stehenden Menschen im Mittelgang des Zuges und werde fündig. Zwei Frauen. Das war vor ein paar Wochen.
Mein Fazit: Ich sehe das anders. Ich bin niemand, der anderen, womöglich fremden Personen seine Meinung aufzwängen möchte. Ich bin vielseitig interessiert an Meinungen von Freunden, Bekannten, Familienmitgliedern oder auch öffentlichen Personen. Höre mir gerne gewisse Einstellungen an, egal ob zu sozialen, persönlichen oder politischen Gegebenheiten. Will mich auch inspirieren oder umstimmen lassen. Doch manchmal, finde ich, gibt es Dinge, die man nicht einfach im Raum stehen lassen sollte. Die es vielleicht dringend wert sind, zu bereden oder zu diskutieren. Natürlich ist mir klar: Politik ist wunderbar streitbar. Immer, denn zu jedem noch so kleinen Thema lassen sich viele Meinungen einholen. Lassen sich zahlreiche fiebrige Debatten führen. Genau richtig so. Nur finde ich manchmal, dass ein gewisses grundpolitisches Interesse nicht überflüsssig sein kann. Und auch nicht schädlich. Denn die Freiheit zu besitzen, sich für eine grobe politische Richtung entscheiden zu dürfen, ist in den heutigen Zeiten verdammt viel Wert. Im Kleinen wie im Großen. Diese Möglichkeit zu belächeln und zu beschimpfen, finde ich schade.
Demokratie fängt schon im Kleinen an
In solchen Momenten erinnere ich mich immer wieder daran, dass es in Deutschland Zeiten gegeben hat, in denen eine Aussage wie „Was geht mich das an?“ nicht einmal zulässig gewesen wäre. Diese Zeitspanne liegt, wenn man sich auf die Jahre des Zweiten Weltkriegs konzentriert, ungefähr 70 Jahre hinter uns. Die politische Zugehörigkeit zu einer gewissen Partei war Pflicht. Und wer gegen diese verstieß, erwartete Schlimmes. Im Anschluss daran entwickelte sich etwas Neues. Etwas, das bis heute vorherrscht und uns umgibt, schützt. In Deutschland entstand die Demokratie.
Die Autorin Dorothea Szyanski schrieb hierzu: „Mit dem Kriegsende im Mai 1945 war das Deutsche Reich unter der Führung Adolf Hitlers an seinem Ende angelangt. Nach der Niederlage brauchte die Bundesrepublik ein neues Regelwerk. Deshalb wurde am 23. Mai 1949 das Grundgesetz verabschiedet. Dieses beinhaltet die Regeln und Grundlagen der Demokratie. Durch die Paragraphen wird die Demokratie geschaffen und geschützt.“ Demokratie - im Großen wie im Kleinen: Fängt bei Abstimmungen von Klassensprechern in der Grundschule an, geht über die Kommunalpolitik bis hin in den Deutschen Bundestag in Berlin. Wir alle erleben Demokratie. Jeden Tag und live. Ich möchte ein bisschen weitergehen, möchte schauen, wie die „professionellen Politiker“ das so durchführen. Möchte erfahren, wie eine Überlegung ihren Weg in einen Landtag finden kann und welche Hürden es möglicherweise auch gibt.
Zu Gast im niedersächsischen Landtag
Es ist Freitag. Der Morgen ist noch sehr jung. Für eine Studentin sehr jung: 06:50 Uhr. Salzgitter- Baddeckenstedt, Bahnhof. Das Ziel ist heute der niedersächsische Landtag in Hannover. Ich bin verabredet mit Stefan Klein. Dieser ist Bürgermeister der Stadt Salzgitter und außerdem Fraktionsvorsitzender der SPD-Ratsfraktion. Die Autofahrt verbringen wir damit, ein bisschen über das Studieren zu reden. Außerdem darf ich ihm alle Fragen stellen, die ich mir zuvor in mein Notizbuch geschrieben habe. Vieles ergibt sich im lockeren Dialog. Zunächst schildert er mir, wie eine Sitzung im Landtag abläuft. Es gibt immer feste Bestandteile eines solchen Tages. Abgeordnete können vorab eine Anfrage stellen, die sie gerne diskutieren möchten. Wenn die SPD-Fraktion aus Salzgitter beispielsweise ein Thema hat, welches sie beschäftigt, kann sie es mit in den Landtag tragen.
Ich möchte erfahren, was er mit dem Wort „Demokratie“ verbindet. Er nennt zuerst das Wahlrecht, welches jeder Wahlberechtigte besitzt. Anschließend sagt er aber auch, dass natürlich im Umkehrschluss jeder das Recht hat, nicht zur Wahl zu gehen. Ich äußere, dass ich mich frage, weshalb man eine Wahlmöglichkeit verweigert, wenn sie doch zum Greifen nahe ist. Weshalb man sich kaum bis gar nicht dafür interessiert, welche Möglichkeiten um einen herrschen. Eine genaue Erklärung kann er mir darauf nicht geben, jedoch spricht er an, dass Parteien natürlich auch bemüht sein müssen, zum Wählen zu bewegen.
Klein ist schon im Jugendalter in die Politik eingestiegen. Sein Vater hat ihn durch seine Mitgliedschaft in einer Partei neugierig gemacht und angesteckt. Im weiteren Verlauf seiner Jugend hat er ein Praktikum in diesem Bereich absolviert, wurde Vorsitzender der Jusos in Salzgitter. Nun fungiert er als Bürgermeister und Fraktionsvorsitzender. Nicht jeder hat solch eine politische Vita vorzuweisen. Und nicht jeder wird durch das Elternhaus so scharf auf das Mitmischen in der Politik gemacht. Völlig normal.
Nach dem Ankommen im Landtag und einer persönlichen kleinen Führung durch die zahlreichen Räumlichkeiten darf ich auf der Besuchertribüne im Plenarsaal Platz nehmen. Es ist mittlerweile neun Uhr. Stimmengewirr. Handschlag, Schulterklopfen, Plätze suchen, Zettel durchreichen. Ich sehe mich um, entdecke ein paar weitere Zuschauer und einen stark gefüllten Saal voller Abgeordneten. Auf der Empore sind alle Pressevertreter und Journalisten zugelassen. Außerdem wird die Sitzung live übertragen. Auch ein Zeichen von Demokratie, diese hier zu erlebende Pressefreiheit. Während meines Besuches fallen mir einige Dinge auf, die mir zeigen, dass ich hier an einem Freitag in 2017 mit meinem Notizblock auf dem Schoß sitze, mir ein Bild über die Standpunkte jeglicher Partei machen darf und mich nicht im Jahr 1939 befinde und aufpassen muss, dass ich keinen Gedanken gegen die eine Partei namens NSDAP verliere. Vielen Dank.
Die zentrale Sache, die mir am Ende auffällt, ist die Gleichberechtigung. Jede Partei darf Themen vorschlagen, jedes Parteimitglied darf sprechen, jede Partei darf Widerspruch einlegen und alle haben die gleiche Redezeit. Es gibt keine Benachteiligung in Form von Redeverbot. Es gibt keine Bestrafung, wenn sich zwei Parteien in ihren Ansichten unterscheiden. Folge: Es werden Kompromisse gesucht und gefunden. Ist das nicht furchtbar mühsam? Das beantwortet mir Klein abschließend zwischen belegten Brötchen und Kaffeetassen in der Lobby, nachdem ich mir die Statements über die Vogelgrippe 90 Minuten lang anhören durfte: „Natürlich ist das auch mal anstrengend. Gerade, wenn man sich sogar mal innerhalb der Fraktion uneinig ist. Trotzdem muss man auf einen Nenner kommen, sonst wirkt man gegenüber den anderen unglaubwürdig.“ Zum Schluss fügt er noch hinzu: „Es gibt immer Dinge, die einem nicht passen, aber das ist Demokratie und das ist auch gut so. Jeder hat das Recht, mitzumischen, wenn er will.“
"Das war halt so, das war dann Diktatur"
Mein nächster Besuch führt mich zu meinen Großeltern, Baujahr 1925. Richtig, die sind ja schon über 90 Jahre alt! Urgesteine, Zeitzeugen und wunderbare Erzähler. Mit wem könnte ich besser über das Vergangene sprechen als mit ihnen? Über das, was sich niemals in Deutschland und woanders auf der Welt wiederholen sollte. Denn die Würde des Menschen ist unantastbar. Ich kenne ihre Geschichten aus der Jugend. Möchte jedoch einmal dieses und jenes erfragen, weil es mich interessiert. Mich interessieren die Unterschiede von damals zu heute. Wie haben sie ihre jungen Jahre gemeistert, unter welchen Umständen? Was hätten sie sich gewünscht? Und am Ende wieder die Frage: Was hat das denn jetzt mit uns zu tun? Demokratie bedeutet für sie die „persönliche Freiheit“ und eine „Selbstentscheidung“ zu haben. Als ich Opa auf mögliche Grenzen oder Störfaktoren des Systems anspreche, äußert er die gelegentliche „Schwerfälligkeit“: „Manchmal dauert es eben, bis Entscheidungen getroffen werden. Gerade, wenn es zu viel Widerstand gibt. Jedoch soll das einen nicht davon abbringen, das Ganze gut zu finden.“
Persönliche Freiheit. Wie fühlt es sich an, wenn einem diese genommen wird? Wie war es, als plötzlich ein gewisser Mann der Herrscher war, jede Woche neue Verbote und Regeln predigte. Opa erinnert sich an die letzte freie Wahl im Jahr 1933, aus welcher die NSDAP als stärkste Partei hervorging. Als ich ihn frage, wie das passieren konnte, antwortet er, dass sich von den vielen kleinen Parteien einfach keine mehr durchsetzen konnte. Es herrschte ein Chaos. Viele Leute wollten einfach nur noch eine Veränderung. Einen halben Monat später schon wurden die SPD und Gewerkschaften verboten. Eine Mitgliedschaft in der Deutschen Arbeitsfront war ab dem Zeitpunkt Pflicht. Auch für diejenigen, die eine andere Einstellung hatten. „Das war halt so, das war dann Diktatur“, sagt meine Oma schulterzuckend. Und fast klingt es für mich so, als wäre es das Normalste der Welt gewesen. Als hätte das alles zum Alltag gehört. Ich überlege. Hat es ja schließlich auch. Für mich nicht vorstellbar, zum Glück.
Ich spreche die beiden auf das Thema Entscheidungsfreiheit an. Schließlich dürfen wir heutzutage alles äußern und fast alles so tun und lassen, wie wir es möchten. Wir dürfen reisen, wir dürfen Kunst machen, wir dürfen lieben, wen wir möchten. Wir haben diese Freiheiten. Und noch wichtiger: Wir dürfen das alles machen, wann wir wollen. Wir werden nicht mit sechzehn Jahren aus der Schule gezogen und müssen arbeiten gehen. Wir müssen nach dem Abitur keinen Studiengang aufnehmen, sondern können gerne ein Jahr in der Welt herumreisen und uns dutzende Orte hautnah ansehen. Aus Spaß, aus der Freiheit heraus.
Und wie war das bei ihnen? Oma absolvierte ihr sogenanntes „Pflichtjahr“ nach der Schule in einem Haushalt. Anschließend gelang es ihr, eine Lehre als Kontoristin (heute vergleichbar mit Bürokauffrau) zu beginnen. Opa machte sein Jahr auf einem Bauernhof. Danach begann er seine Lehre als Landmaschinenschlosser, die er allerdings nicht zu Ende machen konnte. Durfte ist an dieser Stelle das passende Verb. Mit 17 Jahren wurde er in den vormilitärischen Dienst verbannt, aus dem er sich das ein oder andere Mal noch heimlich davonschlich. Kurze Zeit später musste er seine Heimat Hals über Kopf verlassen. Sein Weg führte ihn nach Belgien und Frankreich. „Ich hatte noch Glück, dass ich nicht in den Osten musste. Mein Cousin war kaum einen Monat weg, da kam schon die Nachricht, dass er es nicht geschafft hat.“ Ich schlucke mal wieder. Und weiß nicht, wie man solch eine Zeit jemals überstehen konnte. Denn schließlich ist dies hier nur eines von vielen ähnlichen Erlebnissen. Ich äußere meine Gedanken. Opas Antwort: „C'est la vie.“
C'est la vie, ja richtig. So war der Lauf der Zeit. Der verlorene Erste Weltkrieg, die Weimarer Republik und der anschließende Zweite Weltkrieg, aus dem unsere heutige Verfassung schließlich entstanden ist. Mehr als 70 Jahre, gefühlte Lichtjahre für uns entfernt. Aber diese gesellschaftlichen Ereignisse von damals sollten uns trotz ihrer zeitlichen Entfernung nicht davon abhalten, zu vergessen, wie kostbar unsere heutige Situation doch ist. Im Gegenteil, in Zeiten von Referenden in der Türkei sollten wir umso aufmerksamer sein, was uns angeht. Sollten die Freiheiten nutzen, uns zu informieren. Sollten es nutzen, kritisch hinterfragen zu dürfen anstatt mit dem Strom zu schwimmen. Sollten Parteien genauer betrachten anstatt ihren einfach konstruierten Wahlslogan in feigen Gruppen mitzugrölen. Sollten vielleicht einfach nicht nur auf uns selbst schauen, sondern auch darauf achten, unseren Nebenmann zu akzeptieren. Sollten es schätzen, dass wir wir sein dürfen. Mit Würde, mit Gleichberechtigung und ohne Zensur.
