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Sport und Gesundheit - Migräne Migräne: Die belächelte Krankheit

Fälschlicherweise ist die Migräne für viele Menschen nur ein Synonym für Kopfschmerzen. Betroffene haben somit nicht nur mit den Schmerzen, sondern auch mit der Akzeptanz der Krankheit und Vorurteilen zu kämpfen. Kann man Migräne wirklich so leicht abtun?

Das Gewitter im Kopf (Quelle: iStock)

Ein neuer Tag bricht an. Allerdings ruft das warme, einladende Sonnenlicht an diesem Morgen keine Freude hervor. Jeder Blick ins Licht schmerzt und es fühlt sich an, als würden Nadeln ins Auge stechen und ein Hammer auf die Schläfe krachen. Besonders schlimm ist es dieses Mal auf der linken Kopfhälfte. Jede Drehung im Bett wirkt verstärkend und das freudige Bellen des Nachbarhundes, der am Schlafzimmerfenster vorbeisaust, geht durch Mark und Bein. Selbst der Geruch frisch gebackener Brötchen aus der naheliegenden Bäckerei löst Übelkeit und Erbrechen aus. An Aufstehen und Arbeiten ist heute und vermutlich die nächsten zwei Tage nicht zu denken. Mal wieder verhängt die Migräne gnadenlosen Hausarrest und die Kollegen und Kolleginnen können ihren Vorurteilen zu der angeblichen Frauenkrankheit erneut freien Lauf lassen. Bestimmt kommen Sprüche, wie sie auch die Schmerzklinik Kiel auflistet: „So schlimm kann es doch nicht sein, ich habe auch mal Kopfschmerzen.“ oder „Nimm doch eine Tablette!“.

Was steckt wirklich hinter einer Migräne?

Migräne ist eine eigenständige, neurologische Erkrankung, die sich nach Angaben des Neurologen Jens Gläscher „in erster Linie über den Kopfschmerz manifestiert“. Mit diesem sind auch „vegetative Begleitsymptome wie Übelkeit, Lichtempfindlichkeit und auch Ruhebedürfnis“ verbunden. Der halbseitige, hämmernde, starke Kopfschmerz ist typisch für diese Krankheit. Die Dauer beträgt wenige Stunden bis hin zu drei Tagen. Migräne „ist typischerweise gekennzeichnet durch wiederkehrende Kopfschmerzattacken“, wie Gläscher weiter berichtet. Daher zählt „die Weltgesundheitsorganisation […] Migräne zu den am stärksten behindernden Erkrankungen des Menschen“, so Hartmut Göbel, Chefarzt der Schmerzklinik Kiel. Seinen Angaben zufolge gebe es insgesamt 29 verschiedene Unterformen der Migräne, die wesentlich „von zeitlichen Ablauf her unterschieden“ werden. Zwei Formen sind die Migräne ohne Aura und chronische Migräne.

 

Herr Göbel gibt an, dass die Migräneattacken bei manchen Menschen durch neurologische Störungen, wie beispielsweise Seh- oder Koordinationsstörungen, eingeleitet werden. Diese Phase werde als „Aura“ bezeichnet.
Von chronischer Migräne sei dann die Rede, so Göbel, wenn an mehr als 15 Tagen im Monat Kopfschmerzen auftreten. In diesem Zeitraum müssten an mindestens acht Tagen die Kriterien eines Migränekopfschmerzes erfüllt sein. Betrachtet werde hierbei eine Zeitspanne von mehr als drei Monaten.

Herr Göbel geht in seinem Buch „Erfolgreich gegen Kopfschmerzen und Migräne“ davon aus, dass Migräniker durch eine angeborene Besonderheit der Reizverarbeitung im Gehirn gekennzeichnet seien. Das Nervensystem stehe ständig unter Hochspannung. Reize würden vom Gehirn schneller aufgenommen und verarbeitet werden. Lange Zeit sei unbekannt gewesen, warum Migräniker schneller schalten. Heutzutage gehe man davon aus, dass „spezifische Veränderungen im menschlichen Erbgut auf mittlerweile acht bekannten Chromosomen […] für die besondere Erregbarkeit der Nervenzellen und das damit erhöhte Migränerisiko verantwortlich“ seien. Durch eine „Überlastung kann ein Zusammenbruch der Energieversorgung der Nerven“ ausgelöst werden. Dadurch würden ungehindert schmerzauslösende Botenstoffe von den Nervenzellen freigesetzt, die die pulsierenden Migränekopfschmerzen verursachen.

Sogenannte Trigger könnten zu einer Überlastung führen. „Alkohol, Schlafentzug, Stress“ nennt Herr Gläscher an dieser Stelle. Seines Erachtens sind das die, „die bei ganz vielen Menschen vorliegen“. Herr Göbel ergänzt vier weitere Trigger: „äußere Reize“, „Wetteränderungen“, „außergewöhnliche körperliche Belastungen“ und „Hormonveränderungen“.

Migräne sei keine neumodische Erkrankung, so Göbel. Auf einer ägyptischen Papyrusrolle, die 2000 vor Christi geschrieben wurde, befinde sich die erste Beschreibung einer Migräneattacke, berichtet er weiter. Auch früher habe man sich schon Gedanken darüber gemacht, wie die Krankheit eigentlich entsteht. In der Antike glaubten die Menschen, der Kopfschmerz wäre ein Werk böser Geister. „Die Behandlung erfolgte entsprechend durch Geisterbeschwörung, Exorzismus oder noch drastischer durch Bohrung eines Loches in den Kopf (sogenannte Schädeltrepanation) zur Befreiung der Geister“, schreibt Göbel. Heutzutage gibt es glücklicherweise andere Möglichkeiten, die Migräne zu behandeln.

Therapiemöglichkeiten der Migräne 

„Die Therapie der Migräne gliedert sich letztlich in zwei Bereiche“, erzählt Gläscher. Der erste Bereich ist die Akuttherapie, bei der in erster Linie „klassische Schmerzmittel, wie Paracetamol, Aspirin, Ibuprofen, eventuell Novalgin oder die Triptane zur Verfügung“ stehen. Die Triptane wirken nur bei der Migräne, „spezifisch bei Migränekopfschmerzen“. Maßnahmen wie Entlastung, Schlafen und Entspannung könnten ebenfalls helfen. Der zweite Bereich der Migränetherapie sei die sogenannte prophylaktische Therapie. Diese wird „bei Menschen mit einer hohen Migräneaktivität“ eingesetzt oder bei Patienten, „die schlecht auf die Akuttherapie ansprechen“, erklärt er weiter. Bei der Prophylaxe werden Medikamente verschrieben, „um die Häufigkeit der Migräneattacken zu reduzieren“. Die vier Präparate, Betablocker, Topiramat, Amitriptylin und Flunarizin, seien hier zu nennen, da diese „in der Haupttherapie und Hauptlinie stehen“, sagt Gläscher. Neben der Medikation gebe es auch allgemeine Maßnahmen, um die Migräneattacken reduzieren zu können, berichtet er. Dazu gehören „regelmäßiges sportliches Ausdauertraining“, gesunde Ernährung und das „Meiden von Triggern“. Zusätzlich gebe es noch verschiedene Entspannungsverfahren wie Yoga, autogenes Training und progressive Muskelentspannung. Des Weiteren können „Nahrungsergänzungsmittel, Magnesium, Vitamin B2“ einen positiven Effekt auf die Migräne haben, ebenso wie Heilverfahren und Akupunktur. „Manche Patienten profitieren sehr davon“, erzählt Gläscher. Letztlich muss dies jeder für sich herausfinden.

 

Mit Migräne in guter Gesellschaft 

Herr Göbel gehe von fast 18 Millionen Migränikern allein in Deutschland aus. Seinen Angaben nach litten jeden Tag 900.000 Menschen an Migräne. In einem Jahr gingen 143 Mio. Arbeitstage durch diese Erkrankung verloren und der Preis für einen Tag Arbeitsausfall liege bei 105,75 Euro, berichtet er weiter. Hochgerechnet würden die Gesamtkosten für den Arbeitsausfall im Jahr 15 Milliarden Euro betragen. Des Weiteren gehe die Schmerzklinik Kiel davon aus, dass pro Jahr rund 27 Millionen Euro für die Behandlung in Krankenhäusern und rund 500.000 Euro für frei verkäufliche Schmerzmittel ausgegeben werden. Damit lägen die gesicherten Kosten der Migräne in Deutschland bei gut 16 Milliarden Euro im Jahr.

Deutlich mehr Frauen sind von dieser Erkrankung betroffen. Dennoch kann nicht behauptet werden, dass es sich um eine reine „Frauenkrankheit“ handelt. Laut Göbel sei „die Geschlechtsverteilung der Migräne sehr gut bekannt. Circa 32 Prozent der Frauen und 22 Prozent der Männer leiden im Laufe ihres Lebens an Migräneattacken.“ Des Weiteren sei beobachtbar, dass die Krankheit in jungen Jahren beginnt und im Laufe der Zeit weniger werde. „Es gibt [aber] auch [in jungen Jahren] häufig Phasen mit wenig Aktivität“, berichtet Gläscher.

Wie man sieht, ist Migräne eine weit verbreitete Krankheit, dennoch scheuen sich viele Menschen, offen darüber zu reden. „Sie haben Angst davor, dass man sie als unzuverlässig, als wenig belastbar oder empfindlich einstuft“, meint Göbel. Oftmals sei es genau umgekehrt, da sich die Migräniker besonders anstrengten, „um ihre Behinderung zu überwinden“. Außerdem erklärt Göbel, dass diese Krankheit „oft bei begabten, kreativen Menschen mit einem leistungsfähigen Gehirn“ auftritt. Viele Patienten hätten Großartiges geleistet und sich offen zu ihrem Leiden bekannt, erzählt Göbel. Dazu zählen Hildegard von Bingen, Karl Marx, Wilhelm Busch, Charles Darwin, Thomas Jefferson, Marie Curie und Alfred Nobel.

Akzeptanz und Aufklärung statt Vorurteile 

Trotz allem halten sich die Vorurteile bei der Migräne hartnäckig. „Mangelnde Kenntnis“ nennt Gläscher an dieser Stelle. Des Weiteren meint er: “Es kann keiner, der es nicht selbst hat oder sich damit befasst, ermessen, was es heißt, wenn man so eine Migräneattacke hat.“ Anhand der vorangegangenen Informationen wird deutlich, dass die Vorurteile nicht haltbar sind. Vielleicht meinen viele, dass solche Aussagen, wie zu Beginn genannt, hilfreich wären, aber „sie machen traurig, isolieren und diskriminieren“, wie die Schmerzklinik Kiel berichtet. Bestimmt ärgern sich viele Migräniker über solche Sätze, aber, wie Gläscher richtig sagt: „Das wünscht man nicht seinem ärgsten Feind!“